Naturerlebnis West-Kanada – Nächster Halt: Sägewerk

Im nostalgischen Linienzug „The Canadian“ zieht Kanadas Weite vorüber wie eine Fototapete.

Vier Tage, fünf Provinzen, 4446 Kilometer – der Fernzug „Canadian“ quer über den nordamerikanischen Kontinent von Vancouver nach Toronto ist eine Bahn-Legende. Bei der Fahrt-Etappe vom Pazifik in die Rocky Mountains erlebt man den Wechsel der Jahreszeiten in 20 Stunden.

Zwei schwere Dieselloks von General Electric, dahinter ein Dutzend stromlinienförmige Abteilwagen aus rostfreiem Stahl, Baujahr 1955. Das ist der Stoff, aus dem Bahnlegenden sind. Seit 1955 verbindet der „Canadian“ in 72 Stunden Kanadas Ost- und Westküste auf einer Strecke von 4446 Kilometern. Autobahnen, Flugzeuge, Schneestürme und Sparpläne haben bis heute nichts daran geändert, auch wenn die Streckenführung 1990 geändert und der tägliche Service inzwischen auf zwei bis drei Abfahrten pro Woche reduziert wurde. Bis heute nutzen ihn im Winter überwiegend Kanadier, weil Flugscheine immer noch mehr kosten.

An diesem Dienstagabend steht der berühmte Zug im Bahnhof von Vancouver. Bei Tee und Keksen warten ein paar Dutzend Reisende in der Bahnsteiglounge auf den Beginn ihrer großen Fahrt. Arbeiter verladen die Koffer in den eigenen Gepäckwagen. Schlafwagenschaffnerin Joanne Hince hilft wenig später beim Einsteigen – es gibt keinen erhöhten Bahnsteig – und erklärt, wo sich Dusche und Notausgänge befinden. Zehn Stunden Fahrt dauert es bis zum nächsten Halt Kamloops, 20 Stunden bis ins Städtchen Jasper in den Rocky Mountains. Wer mit dem „Canadian“ reist, der kann es sich gemütlich machen.

Das gilt auch für Zugführer Joe Forsythe. Mit Thermoskanne, Sandwich-Box und einen Stapel Papiere klettert der 58-Jährige hinauf in seinen Arbeitsplatz. Zusammen mit Lesley Bradford übernimmt Forsythe die erste Etappe. Pünktlich um 20.30 Uhr Standard Pacific Time lässt er den Zug aus dem Bahnhof rollen. „Wir sind verantwortlich für den ganzen Zug“, sagt er. Der kann im Sommer mit 32 Wagons so lang sein, dass er halbiert werden muss, bevor die Passagiere aussteigen dürfen. Heikler aber sei der Winter: In diesem Jahr blieben Züge zweimal im Schneesturm stecken. 20 Stunden mussten die Passagiere warten, bis es weiter ging. „Aber der Speisewagen hat genug Reserven“, tröstet Forsythe.

Eine Nacht auf dem Flughafen dürfte schlimmer sein. Vor allem die Schlafwagenabteile mit Stockbett, Waschbecken und Toilette sind behaglich. Joanne Hince macht seit 15 Jahren hier die Betten mit weißen Leinendecken und legt ein Stück Schokolade darauf. Die 37-Jährige wohnt auf halber Strecke in Winnipeg. Ein Leben ohne den Zug kann sie sich nicht mehr vorstellen. „Man trifft so viele Leute hier und immer ändert sich die Landschaft. Sie werden sehen“.

Im Bett liegend sieht man Wälder, Seen und erste Vorberge vorüberziehen. Doch die ganze Pracht entfaltet sich erst am nächsten Morgen. Hatten in Vancouver bereits Hunderte Kirschbäume und Magnolien geblüht, so ziehen nun beim Frühstück erste Schneefelder vorüber. In der Küche des Speisewagens zaubert Chefkoch Paul Terpstra aus Eiern, Milch, Frühlingszwiebeln, Tomaten und Fetakäse herrliche Omeletts. Die frische Zubereitung aller Mahlzeiten an Bord ist einer der Höhepunkte der Bahnreise. Lokale Spezialitäten in ausgesuchten Menüfolgen kommen auf die mit Leinendecken, Porzellan und frischen Blumen gedeckten Tische.

Der andere Höhepunkt ist die Landschaft selbst. Vor allem aus den erhöhten verglasten Sichtkanzeln der Panoramawagen, 1955 eine Sensation, zieht sie scheinbar wie eine endlose Fototapete vorüber. Das Tempo ist gemächlich. Kaum mehr als 90 Stundenkilometer schafft der „Canadian“ auf der Bergstrecke. Immer wieder lässt er kilometerlange Frachtzüge mit Getreide, Schwefel, Pottasche oder Kohle passieren. Scheinbar auf freier Strecke hält er an einem Sägewerk, weil jemand vorher um einen Zustieg gebeten hat. Dann steht er wenig später ohne erkennbaren Grund allein vor dem „Trading Post“ im Kaff Blue River. Es würde nicht wundern, wenn bewaffnete Postzugräuber aus den Wäldern geritten kämen. „Für einen Elch würden wir jedenfalls nur halten, wenn der Bremsweg lang genug ist“, sagt Zugführer Forsythe. Den Elchtest hat er selbst bereits hinter sich. Die Lok war stärker.

Zwischen Mittagessen und Eis-Dessert zieht dann linkerhand der Mount Robson vorüber, der höchste Gipfel in den kanadischen Rockys. Pulverschnee säumt längst das Gleisbett. Um 16 Uhr dann Ankunft im Wintersportort Jasper mitten im gleichnamigen Nationalpark. Es ist zehn Grad kälter als an der Küste. Der nahe Maligne Canyon lockt noch mit seinen vereisten Wasserfällen, die sich vom gefrorenen Fluss aus betrachten lassen. Im Skigebiet Marmot Basin drehen die letzten Pistenhasen ihre Runden vor dem Sommer. Auch der „Canadian“ macht in der Bergfrische eine Stunde Pause. Dann rollt er weiter in Richtung Edmonton.

Erleben Sie eine außergwöhnliche Bahnfahrt mit dem legendären Fernreisezug „The Canadian“ zusammen mit Dr. Martin Wein auf einer spannenden Reise durch die spektakulären Naturräume West-Kanadas. Weitere Informationen finden Sie hier.

Text: Dr. Martin Wein
Bilder: Via Rail Canada und Dr. Martin Wein